Hanoi. Ankunft früh am Morgen. Auf der Fahrt vom Flughafen habe ich das Gefühl in eine Zeitmaschine eingestiegen zu sein. Der Fahrer fährt ca. 45 km/h auf der Autobahn. Soll hier das Land mit dem tosenden Verkehr sein? Zweifel kommen auf. Nach 20 Minuten aber muss ich meine Meinung revidieren. Wir sind in der Stadt angekommen und ich klammere mich am oberen Haltegriff über der Taxitür fest. Der Fahrer fährt nicht viel schneller, aber der Verkehr hat sich vertausendfacht. Mopeds, Autos, Cyclos, Fahrräder, Menschen. Von rechts, von links, von vorne, von hinten! Hupen. Hupen. Hupen. Menschen zu fünf auf Mopeds. Wer glaubt, dass Verkehrszeichen und Ampeln nur in Italien eine Empfehlung sind, sollte hier herkommen. Italien ist nichts dagegen. Rote Ampel? Egal – wer hupt gewinnt. Nach weiteren zehn Minuten komme ich am Hotel Sofitel Legend Metropole an. Ein herrschaftliches altes Gebäude, in edlem Weiß getüncht. Ein Concierge mit Zylinder öffnet meine Taxitür. „Bonjour Madame“. Der französische Einfluss auf das Land und auf das Hotel ist deutlich spürbar. Dennoch krame ich mein noch nachts frisch gelerntes „Xin chào!“ zur Begrüßung heraus. Und bekomme ein aufrichtiges Lächeln zurück. Willkommen in Vietnam!
In der Lobby empfängt mich eine stilvolle Weihnachtsdekoration. Da ich nun mal sentimental und gefühlsduselig bin, reizt das sofort meine Sinne und zum ersten Mal in diesem Jahr freue ich mich auf die Festtage. Herzlich werde ich dort von Thibault Souchon dem Food & Beverage Manager empfangen. Ein junger Franzose, der hier im Haus die Restaurants managt. Wir verabreden uns aus diesem Grund gleich mal zum Mittag für eine kleine Streetfood-Session. Mein Zimmer im französischen Kolonialstil liegt im historischen Flügel des Hauses. Es gibt auch einem Neubau, aber im alten Stil.
Ich schaue hinaus auf den Innenhof mit großem Pool und sehe auch hier einen dekorierten Weihnachtsbaum. Wie ich später erfahre, hängen kleine Briefchen von vietnamesischen Kindern daran, die hier einen Wunsch hinterlassen können. Meistens sind es ganz einfache Sachen. Ein Buch oder ein neues T-Shirt. Hotelgäste und das Personal können sie erfüllen. Eine schöne Charity Idee! Der ganze Hof ist festlich geschmückt. Und natürlich besonders am Abend etwas für kleine Romantiksäue wie mich.
Aber zunächst treffe ich Thibault wieder. Wir machen eine kurze Führung durch das Haus und enden schließlich in der Cocktailbar Angelina. Ja genau – nach Angelina Jolie benannt. Weil sie ein vietnamesisches Kind adoptiert hat und natürlich mit Brad Pitt hier im Haus wohnte. Wir stoßen dort auf den Mitarbeiter Tuan, der aus Hanoi kommt. Er kenne ganz in der Nähe ein paar gute Streetfood-Stände, sagt er. Perfekt! Zu dritt spazieren wir los und ich kann nicht glauben, wie man hier über die Straßen kommen soll. Aber Tuan zeigt es mir. Langsam und unauffällig alle Seiten kontrollierend geht man möglichst ohne Angst auszustrahlen einfach rüber. Ganz lässig. Ich komme mir vor wie einst Ulrich Wickert, der noch als Paris-Korrespondent vor etlichen Jahren den deutschen Fernsehzuschauern erklärte, wie man ganz gelassen über den Place de la Concorde kommt. Also schon wieder: Frankreich on my mind.
Das Essen, das hier bei den kleinen Streetfood-Verkäufern klassischen auf – wir würden sagen – Kinderhockern aus Plastik eingenommen wird, ist fantastisch. Verschiedene frische und frittierte Frühlingsrollen und gefüllte Teigtaschen, dazu diverse Dips und frische Kräuter und Salat. Und einen köstlichen Eistee. Ich bin happy. Und weil es so schön war und Tuan merkt, wie sehr es mit schmeckt, ziehen wir gleich noch mal weiter in eine kleine unscheinbare Bude, wo es eine Art vietnamesische Frikadelle gibt. Auch das: hervorragend. Aber meine große Streetfoodtour habe ich erst am nächsten Tag – also belassen wir es mit dem Essen für heute. Thibault muss zurück ins Hotel aber Tuan hat noch Zeit und fragt mich ob er mir Hanoi zeigen darf. Wir schlendern durch die wuselige und schöne Altstadt, die Stadt der 36 Straßen, wie es heißt.
Tuan führt mich zum Hoan-Kiem-See der mitten in der Stadt liegt. Der See hat für die Vietnamesen eine große Bedeutung. Denn die Legende, an die hier wirklich geglaubt wird, besagt, dass hier einst eine Riesenschildkröte dem Volk zum Sieg gegen die Ming-Dynastie verhalf, mit einem magischen Schwert, die sie an einen armen Fischer übergab. Diese wurde dann nach dem gewonnen Sieg zum König und wollte am See bei den Göttern bedanken – und da tauchte die Schildkröte wieder auf und verlangte das Schwert zurück. Und während der junge König noch überlegte, schwebte das Schwert wie von Zauberhand von alleine in den Himmel und verwandelte sich dort in einen Drachen, der über den See flog und dann darin verschwand. Seufz. Schöne Geschichte. Tuan sagt, es leben immer noch Schildkröten in dem See. Und wer eine sieht hat für immer Glück. Mir ist sie leider nicht begegnet.
Wir wandern weiter und dann denke ich: den Brunnen kenne ich doch. Ich hatte ja schon geschrieben, dass ich nach Vietnam wollte – auch weil ich vor Jahren den Dokumentarfilm „Eislimonade für Hong Li“ von meinem Kollege Dietmar gesehen hatte. In dem Film geht es auch um eine Fotoausstellung eines deutschen Fotografen, der einst nach dem Krieg in Hanoi Bilder schoss, sich in eine Frau (eben Hong Li) verliebte und Jahre später zurückkehrte, um die Bilder mitten in der Stadt an einem Brunnen auszustellen. Und auch Hong Li wiederzufinden. Und nun stand ich vor dem Brunnen! Schaut euch den Trailer an! Ein Kreis schließt sich, und ich hätte ausflippen können vor Glück.
Tuan muss langsam zurück zum Hotel. Ich durchziehe noch die Straßen bis es langsam dunkel wird und die Hanoier ihrer zweiten Lieblingsbeschäftigung nach dem Essen nachgehen: Sport treiben. Auf der Straße beziehungsweise den Bürgerstiegen und Plätzen der Stadt. Badminton, Fußball, tanzen und Gymnastik. Dritte Lieblingsbeschäftigung ist übrigens: sich zusammen tun auf großen Plätze und singen. Lustig. Das Leben scheinen sie mit voller Wucht zu genießen. Ich verabrede mich mit Tuan für eine spätere Tour per Moped zum Night Market. Vorher aber will ich seinem innigsten Rat folgen: einen Sundowner in der Angelina Bar trinken – kreiert von seinem Halbbruder Pham Tien Tiep, der dort nicht nur Barkeeper ist, sondern auch noch den Titel „Best Bartender in the World at the Diageo Reserve World Class 2012“ mit einem speziellen Drink gewonnen hat.
Allein seine Geschichte ist sehr inspirierend. Bevor er im Hotel anfing hatte er eine schlechte Phase in seinem Leben. Er war niedergeschlagen und wusste nicht so richtig weiter. Sein Bruder Tuan empfahl ihm, sich in der Angelina Bar zu bewerben. Er bekam den Job. Er machte sich einen Namen und bekam wieder Auftrieb. Im Frühjahr, als er den wieder eröffneten alten Bunker unter dem Hotel besuchte, kam ihm die Idee zu einem Drink, erzählt er mir. Die amerikanische Singer Songwriterin Joan Baez war 1972 Gast im Hotel und hatte sich hier mit anderen Gästen und Angestellten bei einem Luftangriff während des Krieges in Sicherheit gebracht. Und ein Lied über diese Zeit geschrieben. Gerührt von dieser Geschichte ist Tiep auf die Idee gekommen, der Sängerin einen Drink zu widmen. Und als besondere Note wollte sich Tiep von dem Nationalessen von Hanoi, der köstlichen Suppe Pho ein paar Ingredienzen holen. Ich war neugierig auf die Bunkergeschichte und den Drink. Der Joan Baez Cocktail wird ein einem extra dafür angefertigten Behältnis gemixt. Drei kleine Metallbecher mit Gitternetzboden stehen auf einem Gestänge übereinander, es kommen verschiedene Gewürze, unter anderem Koriander, Ingwer, Kardamom, Sternanis, Zimt und Chili in die Mischung. Und dann kommt Feuer ins Spiel. Die Drink-Mischung wird angezündet und läuft durch alle drei Becher in das Glas. Nach einer Suppe schmeckt er natürlich nicht. Eher süßlich und bitter „so wie das Lied von Joan Baez“ sagt Tiep. Recht hat er, und der Drink ist fantastisch.
Ich will am nächsten Tag mehr über den Bunker und die Geschichte von Joan Baez wissen und mache eine Bunkerführung. Ich steige mit der PR-Beauftragten des Hauses Li Thing Nhung hinab. Der Bunker wurde erst im Mai eröffnet. Bis dahin war auch er, wie so vieles in Vietnam, eine Legende. Man wusste dass es ihn gibt, nicht aber wo. Der Bunker war im Krieg mit Amerika erbaut worden und er bot Personal und den Gästen des Hauses darunter auch vielen Amerikanern Schutz. Jane Fonda hat hier ihre berühmte Radioansprache gehalten. Das war 1972. Mein Geburtsjahr. Und dann kam Joan Baez. Kurz vor Weihnachten, also genau vor 40 Jahren. Joan Baez war 13 Tage hier, mehrfach muss sie in den Bunker flüchten. Viele Menschen starben auf den Straßen. Mütter verlieren ihre Kinder. Das Hotel wollte dennoch, dass sich die Menschen sich hier sicher fühlen. Die Angestellten sangen zum Trost für die Gäste. Joan Baez war davon so ergriffen, dass sie das Lied „Where Are You Now, My Son?“ schrieb. Eine Zeile aus dem Lied lautet:
„Oh people of the shelter
what a gift you’ve given me,
To smile at me and quietly
let me share your agony,
And I can only bow in utter humbleness and ask,
Forgiveness and forgiveness for the things
we’ve brought to pass.“
Und genau diese Zeilen höre ich mit der jungen Vietnamesin Nhung als wir im engen Bunker stehen. Sie spielt das Lied für mich ab. Die Vergangenheit ist ganz nah. Im Lied hört man den Bombenalarm. Und wir stehen uns gegenüber, sind ergriffen und traurig. Ich merke, wie sich meine Augen mit Tränen füllen und schaue sie an. Auch sie ist kurz vorm weinen. Am liebsten hätte ich ihre Hand gehalten – aber ich traue mich nicht. Ich schlucke kräftig und seufze. Nhung auch. Als das Lied vorbei ist, holen wir tief Luft und schweigen. Dann zeigt sie mir an einer Wand einen eingeritzten Namen.
Der australische Botschaftsmitarbeiter Bob Deveraux hatte sich 1975 verewigt. Er ist jetzt 76 Jahre alt und lebt mit seiner vietnamesischen Frau in Perth – und wurde zur Eröffnung eingeladen und war am 21. Mai diesen Jahres dabei als der Ort der Öffentlichkeit übergeben wurde. Die Geschichte des Hauses und seine Mitarbeiter haben mich schwer beeindruckt. Und ich kann es nicht wirklich nachvollziehen, wie man so viel Tragik so schnell aufarbeiten kann und es schafft, Frieden mit der Vergangenheit zu schließen. Natürlich sind die Wunden noch da, aber die Vietnamesen haben sie akzeptiert und ziehen weiter. Ganz nach dem Worten von Joan Baez. „Forgiveness and forgiveness for the things we’ve brought to pass“.
Cám ơn für die Einladung Hotel Sofitel Legend Metropolel und Cám ơn Tiep, Thibauld, Nhung und Tuan, die meinen Einstieg in Vietnam besonders gemacht haben.
Liebe Angie, dein Artikel hat mir eine Träne ins Auge gezaubert. Danke, dass du uns so mitnimmst durch die Welt und sie uns aus einer anderen Perspektive zeigst.
Deine Susa
Danke Susa! 😀